Ein Gesetzeslehrer fragt Jesus: „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben gewinne?“ Er hätte auch umgekehrt fragen können: „Was muss ich tun, damit ich nicht bestraft werde - mit dem Tod?“ Jesus verweist den Gesetzeslehrer auf das Gesetz: Was steht dort? Wie liest Du es, also – wie verstehst Du es? Die Antwort des Gesetzeslehrers ist das bekannte Doppelgebot:

  • Du sollst Gott lieben.
  • Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.

Erst mit der anschließenden Frage offenbart der Gesetzeslehrer das, was er eigentlich wissen will. Wer ist denn mein Nächster? Oder anders gefragt: Wer ist es nicht? Man will sich ja auf das beschränken, was für das eigene Heil notwendig ist – aber nicht zu viel machen. Wer ist mein Nächster? Die Antwort gibt Jesus mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Da liegt also ein Verletzter am Boden. Und nacheinander kommen ein Priester und ein Levit am Verletzten vorbei. Beide kommen von Jerusalem herab auf dem Weg nach Jericho. Das heißt, sie kommen ziemlich sicher gerade vom Gottesdienst. Aber ihr Herz wird von dem Verletzten nicht berührt. Sie sind ganz fixiert darauf, Gott in ihrem Tempelkult zu dienen. Gott zu lieben – das genügt ihnen. Und nun kommt ein Samariter daher. Samariter gehörten auch zum Volk Israel, aber nicht zu den Juden. Die Samariter lehnten den Opferkult ab. Und sie legten das Gesetz des Mose anders aus. Ich verstehe das in etwa so wie das Verhältnis zwischen unseren christlichen Konfessionen: Der Gesetzeslehrer: katholisch, der Samariter: evangelisch. Und ausgerechnet diesen Samariter nennt Jesus dem Gesetzeslehrer nun als Vorbild – im Gegensatz zu dem Priester und dem Leviten. Damit sagt Jesus zum Einen:Einem Gottesdienst, aus dem keine tätige Nächstenliebe erwächst, fehlt etwas Wesentliches. Gottesliebe und Nächstenliebe gehören zusammen. Nächstenliebe ist die tätige Antwort auf die Liebe Gottes zu uns Menschen. Das ist auch der Grund, warum es die Aufgabe des Diakons ist, die Gemeinde am Ende des Gottesdienstes in die Welt zu senden: „Gehet hin in Frieden.“ Im Lateinischen heißt es: „Ite missa est.“ „Gehet hin, ihr seid gesandt.“ Gesandt, um mit der Kraft aus diesem Gottesdienst hinaus in die Welt zu gehen, und den Frieden zu den Menschen zu bringen.“ Jesus sagt mit der Wahl des Samariters in seinem Gleichnis zum anderen: Gottes- und Nächstenliebe sind der Kernpunkt dessen, was Propheten und Gesetz als Lebensregeln vorgeben. Brand- und Schlachtopfer, die Speiseregeln und was die jüdischen Gesetze sonst noch so vorsahen, sind dem untergeordnet. Überspitzt formuliert: Egal ob katholisch oder evangelisch, Hauptsache barmherzig. „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ sagt Jesus im Matthäus-Evangelium. Wichtig ist, dass Jesus die Frage des Gesetzeslehrers umkehrt. Der Gesetzeslehrer fragt: „Wer ist mein Nächster.“ Jesus dreht die Frage am Ende des Gleichnisses um: „Wer ist dem Verletzten der Nächste geworden?“ Das heißt: Jesus gibt keine Regel vor, die uns sagen könnte, wer der Nächste ist. Ich werde zum Nächsten von dem Menschen von dessen Not ich mich berühren lasse – so wie der Samariter, der Mitleid mit dem Verletzten hat. Und so kann es sein, dass ich zum Nächsten werde von Menschen in Ostafrika, die eine massive Hungersnot durchleiden. Sind die Menschen in Ostafrika meine „Nächsten“? Sicher nicht. Die Region ist weit weg von hier. Trotzdem kann ich zum Nächsten dieser Menschen werden, wenn ich mich von ihrer Not berühren lasse – und beispielsweise Geld an eine Hilfsorganisation spende. Im Buch Ezechiel heißt es: „Ich beseitige das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch.“ Ein Herz das sich berühren lässt. Ein Herz, das mich zum Nächsten werden lässt. Und wenn man so ein Herz aus Fleisch hat, dann wird die Einhaltung von Gottes- und Nächstenliebe ganz einfach. In der Lesung haben wir gehört: „Dieses Gebot, auf das ich dich verpflichte, geht nicht über deine Kraft. Das Wort ist ganz in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.“ Aber scheitern wir nicht trotzdem häufig an diesem einfachen Gebot? An einem Ostersonntag vor ein paar Jahren habe ich in Böfingen eine Wort-Gottes-Feier geleitet. Es ging in diesem Gottesdienst manches schief – und zu allem Überfluss bekam ich einen Migräneanfall. Ich schätze einige von Ihnen kennen das. Nach dem Gottesdienst wartete eine junge Frau draußen auf dem Kirchplatz, die jemanden zum Reden und Hilfe suchte. Sie war schon von den übrigen Gemeindemitgliedern abgewiesen worden. Ich war nicht wirklich aufnahmebereit. Meine Hinweise auf weitere Anlaufstellen in Ulm brachten sie nicht weiter. Am Ende des Gesprächs sagte sie zu meinen Kindern, die damals ministriert hatten: Seid froh, dass ihr in einem guten Elternhaus aufwachsen dürft. Dann ging sie weinend weg. Natürlich habe ich sie nie mehr wieder gesehen. Niemand von der Gottesdienstgemeinde ist an dem Tag der Nächste dieser jungen Frau geworden – mich eingeschlossen. Ich habe das meinem geistlichen Begleiter erzählt. Was er dazu sagte war sinngemäß: Wir alle haben das Recht zu sagen: „Ich kann Dir gerade nicht helfen.“ Weil es mir nicht gut geht, zum Beispiel. Aber er gab mir den Rat beim nächsten Mal dazu noch zu sagen: „Aber ich bin zu einem späteren Zeitpunkt für Dich da“ – und dann einen Termin auszumachen. An besagtem Ostersonntag habe ich das versäumt. Warum also helfen wir einem Verletzten? Unsere Motivation als Christen sollte nicht die Angst vor Strafe sein. Unsere Motivation sollte auch nicht die Erlangung ewigen Lebens sein. „Werkgerechtigkeit“ wie Martin Luther es nannte. Unsere Motivation sollte Gottes Liebe zu uns Menschen sein. Wir sollten unser Herz aus Fleisch von der Not des Mitmenschen berühren lassen. Mein letzter Erste Hilfe Kurs liegt übrigens fast elf Jahre zurück. Ich habe extra nochmal nachgesehen, als ich diese Predigt vorbereitet habe. Ich habe mich nun gleich zu einem Kurs angemeldet: Am 22. Oktober beim Roten Kreuz. Vielleicht sehen wir uns da?

Diakon Markus Lubert