Am 16. Juni 2022
EVANGELIUM: Lukas 9,18-24
Und ihr, Brüder und Schwestern? Für wen haltet ihr Jesus? Warum fragt Jesus das seine Jünger? Nicht, weil er wissen will, wie gut er bei den Menschen ankommt – wieviele „Likes“ er gerade hat. Er stellt diese Frage weil er weiß: Wer ihn nur für einen besonderen Menschen hält, für einen guten Prediger – der wird an der Nachfolge scheitern.
Spätestens wenn die Situation schwierig wird, werden diese Menschen ihn verlassen. Denn das was Jesus von seinen Jüngern einfordert, hat es in sich: „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Er nehme täglich sein Kreuz auf sich. Wichtig ist: Jeder und jede trage das eigene Kreuz. In der Nachfolge Jesu geht es vor allem darum auf sich zu schauen – eine eigene Beziehung zu Jesus Christus aufzubauen – und aus dieser Beziehung heraus IHM nachzufolgen. Das eigene Kreuz täglich zu tragen. Wie kann das heute aussehen? Hier helfen uns Vorbilder. Beispielsweise die Heiligen. Aber auch andere Menschen, die ein besonderes Zeugnis für ihren Glauben abgelegt haben. Schauen wir auf Chiara Corbello Petrillo. Chiara wurde 1984 in Rom geboren. 2008 heiratete sie mit 24 Jahren in Assisi. Bald nach der Hochzeit erwartet Chiara ein Kind. Das Ultraschallbild zeigt: Das Mädchen in Chiaras Bauch hat eine Fehlbildung der Schädeldecke. Die Lebenserwartung nach der Geburt beträgt nur wenige Stunden. Man rät ihr, die Schwangerschaft abzubrechen. „Gott macht nie einen Fehler“, sagt Chiara. Sie trägt das Kind aus. Sie sagt: „Es ist nicht wichtig, wie lange ein Mensch auf dieser Erde lebt, sind wir doch für die Ewigkeit geboren.“ Das Mädchen wird nach der Geburt auf den Namen Maria Grazia Letizia getauft. Die kleine Maria lebt eine halbe Stunde lang auf dieser Erde. Eine halbe Stunde, in der ihr die Eltern all ihre Liebe schenken. Bald darauf erwartet Chiara wieder ein Kind. Die zweite Ultraschalluntersuchung dauert endlos. Das Kind – ein Junge – hat keine Beine. Chiara und ihr Mann richten sich auf ein Leben mit einem Kind mit Behinderungen ein. Beim vierten Ultraschall zeigt sich: Das Kind hat keine Nieren. Die Lunge bildet sich nicht richtig aus. Auch dieses Kind wird nicht lange leben können. Chiara entscheidet sich auch dieses Mal gegen einen Abbruch der Schwangerschaft. Viele Freunde wenden sich von Chiara und ihrem Mann ab. Sie verstehen nicht, wieso sich Chiara durch so eine – scheinbar sinnlose – Schwangerschaft quält. Von den Freunden fallen gelassen – wo sie doch Unterstützung so sehr gebraucht hätte. Das Kind wird gleich nach der Geburt auf den Namen Davide getauft. Auch Davide lebt nur eine halbe Stunde auf dieser Erde. Eine halbe Stunde, um geliebt zu werden. Ein drittes Kind kündigt sich an. Die Untersuchungen zeigen: Das Kind ist gesund und entwickelt sich normal. Im fünften Monat ihrer Schwangerschaft zeigt sich auf Chiaras Zunge eine Wunde, die nicht verschwinden will. Krebs. Ein aggressiver Zungenkrebs, der dringend behandelt werden muss. Eine Chemotherapie würde die Gesundheit des ungeborenen Kindes gefährden. Chiara entscheidet sich, die Schwangerschaft ohne Behandlung fortzusetzen. Sie bringt im Mai 2011 einen gesunden Jungen zur Welt – den kleinen Franci. Gleich nach der Geburt beginnt Chiara mit den Krebsbehandlungen, aber es ist zu spät. Ein Jahr später stirbt sie im Alter von 28 Jahren. Franci lebt und ist heute 11 Jahre alt. „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten.“ Chiara hat unerschütterlich an diese Botschaft Jesu geglaubt. Ihr Glaube hat das Kreuz leicht gemacht, das sie zu tragen hatte. Es war ihr persönliches Kreuz. Und sie hat es nach freiem Willen getragen. Was wäre Chiaras Glaubenszeugnis wert, wenn Gesetze ihr vorgeschrieben hätten so zu handeln, wie sie es aus ihrem Glauben heraus getan hat? Wir würden nicht einmal ihren Namen kennen. Jesus hat nur denen das Kreuz auferlegt, die bereit sind ihm nachzufolgen. Alle anderen Menschen brauchen einen Geist des Mitleids – so wie ihn der HERR laut dem Propheten Sacharja über das Volk ausgegossen hat – sie erinnern sich an die erste Lesung. Aus diesem Geist des Mitleids wächst dann Umkehr. Der Geist des Mitleids wird genährt durch unser unermüdliches und glaubwürdiges Zeugnis. Dadurch, dass wir den Schwachen unserer Gesellschaft eine Stimme geben. Oder durch das Kreuz, das wir persönlich tragen. Chiara Corbello Petrillo hat ein Kreuz getragen, das in dieser Form nur Frauen tragen können. Nicht alle Frauen, aber eben NUR Frauen. Wenn wir heute im Römerbrief hören „es gibt nicht mehr … männlich und weiblich“ – dann heißt das natürlich nicht, dass es überhaupt keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern mehr gibt. Aber es heißt, dass die Taufe uns unterschiedslos den Zugang zu Jesus Christus eröffnet. Und uns unterschiedslos in seine Nachfolge ruft. Es ist für den Zugang zu Jesus egal, woher und von wem wir abstammen: Es gibt nicht mehr Juden und Griechen. Es ist für die Nachfolge Jesus egal, welche Rollen uns im Leben von Menschen zugewiesen oder versagt werden – auch in der Kirche: Es gibt nicht mehr Sklaven und Freie. Und es ist für die Nachfolge Jesu egal, in welchen Körper wir geboren worden sind: Es gibt nicht mehr männlich und weiblich. Durch die Taufe haben wir alle den gleichen Zugang zu Jesus Christus und sind gleichermaßen in seine Nachfolge gerufen. In dieser Nachfolge wird uns zum Glück nicht allen das Kreuz auferlegt, unser Leben im wahrsten Sinne für andere hinzugeben. So wie Chiara das gemacht hat. Aber: Täglich das Kreuz auf sich nehmen – das geht auch im Kleinen. Wir verlieren ein wenig von unserem Leben, wenn wir unsere Zeit für unsere Mitmenschen hingeben. Aber ich denke, dass viele von Ihnen bestätigen können: Wenn man seine Zeit für andere opfert, bekommt man meistens ganz viel Lebenssinn zurück. Wieviel Dankbarkeit erfährt man, wenn man Einsame besucht? Wenn man Bedürftigen etwas abgibt? Wenn man Trauernde tröstet? Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten. Und ihr, Brüder und Schwestern? Für wen haltet ihr Jesus?
Diakon Markus Lubert