Am 01. Oktober 2023
LESUNG: Phil 2, 1–11
Der britische Premierminister erklärt öffentlich: Wer katholisch ist, kann ab sofort kein guter Staatsbürger mehr sein, in Großbritannien. Bürger sein im Vereinigten Königreich und Mitglied sein in der katholischen Kirche, das geht nicht zusammen, meint der Premier. Nach seinen Äußerungen ist die Verunsicherung groß, bei den Katholiken auf der Insel und bei ihren protestantischen Nachbarn. Doch keine Sorge!
Das alles ereignete sich nicht vor ein paar Tagen. Die Ereignisse, die ich angesprochen habe, liegen fast 150 Jahre zurück. Was war damals geschehen, im Jahr 1874? Vier Jahre zuvor, 1870, hatten sich in Rom der Papst und die Bischöfe versammelt, zum Ersten Vatikanischen Konzil. Sie erklärten feierlich: Der Papst ist unfehlbar, und er hat das Recht, Weisungen zu geben, für die ganze Kirche. Alle Gläubigen müssen ihm gehorchen. Der britische Premierminister, er hieß William Gladstone, erfuhr von diesem Dogma. Er schloss daraus: Die Katholiken sind dem Papst zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Also können sie nicht mehr loyale Untertanen ihrer Majestät der Königin sein. Die Katholiken in Großbritannien sind verdächtig. Im Zweifelsfall würden sie dem Papst folgen, nicht der Königin. Soweit der Premierminister. Seine Äußerungen führten beinahe zu einer Staatskrise. Die Verunsicherung war groß. Wer konnte das Problem lösen? Einer konnte es. Ein führender Intellektueller in England. Eine hochangesehene Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Ein Theologe und Seelsorger. Sein Name: John Henry Newman. Er schrieb einen offenen Brief. An den Herzog von Norfolk, Mitglied des englischen Hochadels und gleichzeitig Repräsentant der Katholiken im Königreich. In seinem Brief, der in Wirklichkeit ein brillanter Essay ist, stellt Newman dar, wie das ist: mit dem Papst, mit der Königin und mit dem Gehorsam. Es gibt verschiedene äußere Autoritäten, denen Katholiken verpflichtet sind: dem Papst als religiöser Autorität, der Königin als weltlicher Macht. Einen absoluten Gehorsam freilich gibt es weder dem einen noch der anderen gegenüber. In der letzten Konsequenz ist der Katholik keiner äußeren Autorität verpflichtet, sondern nur einer inneren: seinem eigenen Gewissen. Im Gewissen spricht Gott zum Menschen. Dieser Stimme muss der Mensch folgen. Erst in seinem Gewissen erkennt er, dass auch äußere Autoritäten das Recht haben, gehört zu werden: der Papst und die Königin. Ohne die vorausgehende Einsicht im Gewissen sind sie nichts. Newman spitzt seine Einsicht zu in dem berühmten Bonmot: „Wenn ich genötigt wäre, bei den Trinksprüchen nach dem Essen ein Hoch auf die Religion auszubringen (was freilich nicht ganz das Richtige zu sein scheint), dann würde ich trinken – freilich auf den Papst, jedoch zuerst auf das Gewissen und dann erst auf den Papst.“ (Kirche und Gewissen, in: Polemische Schriften. Mainz 1959.171.) Zuerst: auf das Gewissen! To Conscience first. Soweit Newmans Essay. Er wurde überall in Großbritannien gelesen, mit Begeisterung, mit Bewunderung, mit großer Erleichterung. Ja, wenn das so war, dann musste man sich keine Sorgen machen um die Loyalität der Katholiken im Land. Alle waren stolz darauf, dass es einen Mann in England gab, der das Problem hatte lösen können, durch seinen messerscharfen Verstand, durch seine Fähigkeit, brillant zu schreiben. Wer war dieser John Henry Newman? Er wurde 1801 in London geboren, in einer reichen bürgerlichen Familie. Sein Vater war Bankier mit eigener Bank. Newman besuchte eine Privatschule, später studierte er in Oxford Sprachen, Philosophie, Theologie. Als Jugendlicher hatte er ein religiöses Erlebnis: Gott existiert, genauso wie die eigene Seele. Eine innere Erleuchtung, die sein Leben fortan prägte. Nach seinem Studienabschuss blieb er an der Universität, als Dozent, als Fellow im Oriel College, als Pfarrer an der Universitätskirche St. Mary´s. Wenn er am Sonntag predigte, pilgerten die Menschen von überall her in seine Kirche. Wissenschaftlich beschäftigte er sich mit den Schriften der Kirchenväter. Er las sie alle, in griechischer und lateinischer Originalausgabe. Zusammen mit Gleichgesinnten vertrat er die Meinung, dass seine Kirche, die anglikanische, die wahre Kirche sei. Katholische und evangelische Kirche dagegen sah er als Extreme, seine englische Staatskirche als goldenen Mittelweg. Er untersuchte das Verhältnis von Glauben und Wissen. Er zeigte, wie religiöser Glaube und Vernunft zusammenpassen. In einem mehrjährigen Forschungsprojekt beschrieb er, wie sich die Glaubenslehre der Kirche im Lauf der Jahrhunderte entwickelt hat, ob bestimmte Lehren wahr und richtig waren, oder unwahr und falsch. Bei dieser Arbeit kamen ihm Zweifel: War die anglikanische Kirche wirklich die richtige? Schließlich war ihm klar: Nicht die englische Kirche, sondern die katholische Kirche ist die wahre Kirche. Er konvertierte im Alter von 44 Jahren. Er verlor seine gesamte Existenz, seine Anstellung an der Universität, sein Pfarramt, seine Kollegen und fast alle Freunde. Für ein Jahr ging er nach Rom. Er wollte die katholische Kirche kennen lernen. Er kannte sie bisher nur aus Büchern. Er besuchte Vorlesungen in Rom und war erschüttert über die schlechte wissenschaftliche Qualität der römischen Theologie. Er wurde zum Priester geweiht. Er trat in die Gemeinschaft der Oratorianer ein. In seine Heimat zurückgekehrt gründete er die katholische Universität in Dublin. Er leitete sie mehrere Jahre als Rektor. Er gab eine Zeitschrift heraus. Er lebte in der Gemeinschaft der Oratorianer in Birmingham. 1879 ernannte ihn Papst Leo XIII. zum Kardinal, eine späte Anerkennung seiner Verdienste für die Kirche. Er starb fast neunzigjährig 1890. Viele seiner Gedanken waren ihrer Zeit weit voraus. Sie finden sich wieder im Zweiten Vatikanischen Konzil. Seine Schriften wurden auch in Deutschland gelesen. Seine Gedanken beeinflussten unter anderem die Mitglieder der Weißen Rose. Selig gesprochen wurde er 2010, heiliggesprochen 2019. Sein Gedenktag ist der 11. August oder auch der 9. Oktober, der Tag, an dem er in die katholische Kirche aufgenommen wurde. Und wir? Wir könnten jetzt anstoßen: auf Newman, auf die Kirche, auf den Papst, zuerst aber - auf das Gewissen.
Pfarrer Dr. Bernhard Lackner