Am 7. Juli 2024

leitartikel sw

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Das beginnt bereits bei den Kindern in der Schule. Da zählen die Noten. Nur wer gute Zeugnisse hat, kann eine Lehrstelle bekommen oder einen Studienplatz. Er hat damit die Chance, sich eine Existenz aufzubauen. Er kann einen der guten Plätze einnehmen in der Gesellschaft, wo Geld verdient wird, wo man in Wohlstand leben kann und in Sicherheit.

Wer einen guten Arbeitsplatz hat, der muss täglich beweisen, dass er diesen Platz auch wert ist, durch seine Arbeit, durch Leistung. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Auf diesem Hintergrund hören wir ein Wort des Apostels Paulus in der Lesung. Da heißt es: „Ich will mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt. Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn, wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ Paulus betont seine Schwäche, seine Ohnmacht, seine Angst. Ausgerechnet Paulus! Hat er das nötig? Wie kein anderer Apostel arbeitet er für das Evangelium, Tag und Nacht, Jahr um Jahr, unermüdlich. Wie kein anderer hat er Erfolg. Unzählige Menschen gewinnt er für den christlichen Glauben. Viele Gemeinden gründet er. Er ist ein begnadeter Prediger, Theologe und Schriftsteller. Seine Briefe sind Teil der Bibel. Sie werden heute noch gelesen, fast an jedem Sonntag, in allen Gottesdiensten, rund um die Welt. Paulus ist der Leistungsträger der frühen Kirche schlechthin. Wie kann er da von Schwäche reden, von Ohnmacht, von Angst? Paulus hat offensichtlich ein Problem, trotz seiner eindrucksvollen Leistungsbilanz. Er spricht von einem „Boten Satans“, der ihm zusetzt, der ihn „mit Fäusten“ schlägt. War Paulus krank oder hatte er ein seelisches Problem? Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall hat auch er, der Super-Missionar, seine Schwächen, körperliche oder seelische. Trotzdem gibt er nicht auf, ganz im Gegenteil. Er sieht seine eigene Not, seine Schwäche im Licht des Glaubens. Gott hat ihm diesen „Stachel im Fleisch“ geschickt, damit er, Paulus, nicht übermütig wird, überheblich, angesichts dessen, was er leisten kann, angesichts dessen, was ihm gelingt. Gott hat ihm diese Schwäche geschickt, damit er nicht meint, er hätte alle seine Erfolge aus eigener Kraft erzielt, Paulus, der Super-Apostel. Nein, was er kann, das hat Gott ihm geschenkt. Gottes Gnade geht allem Tun voraus, allem Gelingen. Christus spricht zu Paulus: „Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit.“ was bedeutet das für uns heute? Keineswegs, dass wir die Hände in den Schoß legen, nichts mehr tun, weil ja Gott alles macht für uns. Der Apostel lädt uns vielmehr ein, dass wir dankbar annehmen, was Gott uns schenkt, unsere Fähigkeiten, unsere Begabungen, aber auch unsere Schwächen, unsere Not, unsere Angst. Mit unseren Talenten können wir arbeiten, etwas leisten, für andere und für uns selbst. In unserer Schwäche erfahren wir: Wir können nicht alles. Wir können nicht alles allein und wir müssen es auch nicht. Denn wir haben Hilfe und Beistand, von anderen Menschen und von Gott. Noch etwas lernen wir von Paulus. Wir dürfen Menschen nie allein an dem messen, was sie leisten. Sicher, es ist schön, wenn Menschen etwas fertigbringen, wenn sie Erfolg haben, als Frucht ihrer Arbeit, ihres Könnens. Darauf dürfen sie mit Recht stolz sein. Bei allen Erfolgen freilich dürfen wir nie vergessen: Menschen sind mehr als das, was sie leisten. Wir sind Kinder Gottes, seine Söhne und Töchter, nicht weil wir das verdient hätten, durch unsere guten Werke, sondern weil Gott uns als seine Kinder angenommen hat, weil er uns mag, einfach so, wie Eltern ihre Kinder mögen, auch wenn die Noten in der Schule einmal nicht so gut sind. Weil Gott uns annimmt, so wie wir sind, deshalb können auch wir einander annehmen mit unseren Stärken und Schwächen, mit unseren Erfolgen und Nöten, mit unserer Leistung und mit unseren Ängsten. Auch uns gilt das Wort: „Meine Gnade genügt dir, denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit… Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“


Pfarrer Dr. Bernhard Lackner