am 5. November 2017
Wozu Kirche da ist
Evangelium: Joh 10, 11-16
Vor 50 Jahren wurde diese Kirche von Bischof Carl Joseph Leiprecht geweiht. Voraus gingen Jahre der Sammlung der Gemeinde in einer zur Notkirche umgebauten Scheuer (im ehem. Hofgut): Jahre echter „Pionierzeit“. Etwas vom Geist dieser Pionierzeit spricht aus dem Text der Urkunde, die in den Grundstein dieser Kirche eingelassen ist:
Heute (es war der 7.5.1966) wurde… der Grundstein zu dieser Kirche gelegt, die den Titel trägt: „Zum Guten Hirten“. Sie wird Mittelpunkt sein für die neue katholische Gemeinde in Ulm-Böfingen, die bereits 3000 Seelen zählt und weiter im Wachsen begriffen ist. Nur ein kleiner Teil stammt aus Ulm; viele, aus ihrer Heimat vertrieben, fanden hier ein neues Zuhause. Viele siedelten sich an, die in den hiesigen Betrieben Arbeit gefunden haben. Trotz landsmannschaftlicher und sozialer Unterschiede ist die Gemeinde schnell zusammengewachsen. Die Kindergärten und das Jugendhaus Don Bosco sind Zeugen dieses Geistes. Im Namen unseres Herrn, des guten Hirten, und im Vertrauen auf Seine Hilfe haben wir dieses Werk begonnen.
Wir haben heute Zeugen des damaligen Aktes unter uns: (…Kurat Erwin Mock?, Pfarrer Otto Baur?, Architekt Josef Götz?, Albert Schlaud, Anton Hecht…).
Die Namenswahl der Kirche (das sogenannte Patrozinium) war offenbar das Ergebnis einer Diskussion. Aus der Chronik geht hervor, dass statt des ursprünglich vorgesehenen Namens „Christkönig“ der Titel „Zum Guten Hirten“ gewählt wurde. Sicher war das auch eine Programm-Entscheidung– mit dem Tenor: Mit dieser Kirche wollen wir nicht in erster Linie ein sakrales Denkmal errichten; sie soll etwas vom Guten Hirten ausstrahlen, der seine Herde sammelt und für sie sorgt! Es geht also um den Hirtendienst, die „Pastoral“. Wie zur Bestätigung dafür hat man schon Jahre vor dem Kirchbau zwei Kindergärten gebaut und eingerichtet: Die vielen Familien mit Kindern in diesem Neubaugebiet brauchen unsere Hirtensorge! Das war gewiss keine Geringschätzung des Kirchbaus, aber eine bewusst gewählte Reihenfolge!
Mit dem Kirchbau aber hat die Böfinger Gemeinde ihren geistlichen Mittelpunkt, eine Art geistlicher Heimat und sicher auch eine innere Beziehung zu ihrer Kirche gefunden. Dabei geht es nicht allein um die Steine, den Beton, die Architektur, die Kunst – es geht um die Begegnung mit dem Hirten unseres Lebens, die auch einen Ort braucht: Hier sammelt er uns als seine Gemeinde; hier erfahren wir, dass wir nicht allein sind auf unserem Glaubensweg, sondern von anderen mitgetragen sind, wenn wir frohen Herzens Gott loben, aber auch in der Trauer, wenn uns der Glaube schwer geworden ist. Hier hören wir die Stimme des Guten Hirten im Evangelium, in der Predigt, in der Kirchenmusik. Ja, diese Kirche ist Ort der Zugehörigkeit: die Türen stehen offen für jede(n. Und viele von uns verbinden mit dieser Kirche Momente, die sie geprägt haben: die Taufe, die Trauung, ein persönliches Fest, aber auch einen Zuspruch auf einer dunklen Wegstrecke - und einfach das Wissen, hier immer das Ohr des Guten Hirten zu haben (auch in der Stille, wenn niemand um mich ist). Wer weiß schon, wie viele Gebete und Nöte hierher getragen wurden, die von keiner Statistik erfasst sind.
Freilich: Die Pionierzeiten, die Jahre des Aufbruchs, der „ersten Liebe“ sind vorbei. 50 Jahre sind im Blick auf die Kirchengeschichte eigentlich eine kurze Zeit. Und doch sind sie eine lange Zeit, wenn wir die Veränderungen in der Gesellschaft, aber auch in der Kirche in diesen Jahren bedenken. Auf Pionierzeiten folgen ja immer – das ist einfach menschlich – Zeiten der Gewöhnung. Man kann und will nicht ständig Pionier sein. Man will schließlich auch einmal ankommen und sich niederlassen. Jetzt hat man eine Kirche, und es ist gut, dass man sie hat – aber andere Prioritäten schieben sich nach vorn…
Ich will es gleich sagen: Ich werde jetzt nicht in die Leier von den „leeren Kirchen“ einstimmen. Das Wort von den „leeren Kirchen, die immer leerer werden“, ist ja ein beliebtes journalistisches Klischee. Aber der kleine Rest an Physik-Kenntnissen aus meiner Schulzeit reicht für mich aus, um zu wissen, dass etwas, das angeblich „leer“ ist, nicht immer noch „leerer“ werden kann. Es ist also schlicht ein „leeres Geschwätz“! Sagen wir es richtig, und zugleich nüchtern und ehrlich: Die Gottesdienstgemeinden sind kleiner geworden. Die meisten Kirchen (und vielleicht auch die heutige Jubilarin) hätte man etwas kleiner bauen können… Das ist kein Grund zum Jubel, aber auch nicht zum Fatalismus, es ist ein Grund zur Besinnung und zum Nachdenken. Und wenn heute nur selten Kirchen gebaut, aber manche abgerissen werden – „wegen fehlendem Bedarf“ wie es dann wohl heißt -, gibt das schon einen Stich ins Herz. Es ist klar: Nicht erst durch Bagger und Abrissbirne werden Kirchen abgerissen, sondern lange vorher durch unterlassene Gebete und nicht besuchte Gottesdienste.[1]
Umso wichtiger ist, dass wir uns am heutigen Jubiläumstag bewusst werden, was uns, was Ihnen die Gut-Hirten-Kirche bedeutet, was sie Ihnen wert ist. Da gilt nicht nur: Was wäre Ulm ohne sein Münster?!, da gilt genauso: Was wäre Böfingen ohne seine Kirchen – ohne die Auferstehungskirche und ohne diese Kirche Zum Guten Hirten, die immer für mich offen steht, die mir signalisiert, dass ich willkommen bin, dass ich dazu gehöre, auch wenn ich mich vielleicht selbst verloren oder vergessen habe.
Eigentlich ist dieser Kirchbau und sein Name Zum Guten Hirten ein stiller Widerspruch in sich: Hier der massive Bau – und da der Hirt, der ja nicht hinter Mauern sitzen und sich einrichten kann, sondern mit seiner Herde immer wieder zum Aufbruch ruft, zum Aufbruch auf neue Wege, neues Terrain. Es hat deswegen eine tiefe Symbolik, dass nach dem Gottesdienst ein Bild, eine Skulptur des Guten Hirten präsentiert und gesegnet wird: nicht hier in der Kirche, sondern draußen auf dem Platz vor der Kirche! Vielleicht kann uns in dieser Fortsetzung des Gottesdienstes draußen heute am Kirchweihtag etwas vom tieferen und weiteren Geheimnis der Kirche aufgehen:
Auch wenn der Vergleich etwas hoch gegriffen ist - es ist im Grund wie mit Petersdom und Petersplatz. Der Petersdom in Rom bietet eigentlich ein geniales Bild von Kirche (weniger von seiner gewaltigen Baumasse, aber von seiner Anlage her): Nach dem Plan des Architekten Bernini gehört nämlich zum Gesamtbau nicht nur der (Innen-)Raum der Basilika, sondern auch der von Kolonnaden umschlossene Vorplatz, der den Besucher mit offenen Armen empfängt. Die da durch die Kolonnaden kommen und über den Platz strömen, befinden sich bereits im Bereich des Gotteshauses, ohne dass sie es sich ausdrücklich bewusst machen.[2]
So auch hier die Kirche Zum Guten Hirten: Der Gute Hirt empfängt die Menschen schon vor der Kirche. Sie sind von ihm angesprochen, sie gehören dazu, ohne dass es ihnen groß bewusst ist. Ist nicht genau das unsere neue heutige Pionierzeit als Kirche und Gemeinde: schon auf dem Platz vor der Kirche die Atmosphäre des Guten Hirten auszustrahlen, Hirtendienste zu tun - nicht durch aufdringliche Werbeaktionen, sondern durch unsere Präsenz, unsere Offenheit, unser Zuhören und unser Interesse für die Menschen, die scheinbar draußen sind und doch dazugehören.
Deshalb wird der Kirchenraum selber mit seiner offenen Tür nicht weniger wichtig. Im Gegenteil – es wird uns erst wieder so recht bewusst, wie sehr wir „den Ruheplatz am Wasser“ und die Stimme des Guten Hirten brauchen, den gedeckten Tisch der Eucharistie und die Versammlung der Gemeinde, die uns trägt und stärkt – aber auch den Ort der Stille, wo wir einfach im vis-a-vis mit unserem Gott verweilen können.