Warum bin ich nicht schon längst ausgetreten?

Gründe dafür gäbe es genug:

• Frauen und verheiratete Männer werden diskriminiert, indem sie ausgeschlossen sind von den wichtigsten Leitungsfunktionen, indem man ihnen verbietet, den Heiligen Geist herab zu bitten auf unser Brot und un-seren Wein, auf unser sakramentales Handeln. Die Argumente „Tradition“ und „Weltkirche“ bedeuten letztlich, dass das Unrecht aus früheren Zeiten und aus anderen Teilen der Welt um der Einheit willen auch bei uns fortbestehen müsse - als ob es dadurch kein Unrecht mehr sei. Mit dem gleichen Argument kann man bei uns auch Kinderarbeit zulassen.


• Bei dem Gebet „Herr sende Arbeiter in Deinen Weinberg“ müsste eigentlich immer der Zusatz folgen „… aber schicke keine verheirateten Männer und erst recht keine Frauen, die schicken wir Dir wieder zurück“. Es ist im Grunde ein Verbrechen an diesen Frauen und Männern, die die Berufung für diesen Dienst in sich haben, die Berufung aber nicht leben dürfen. Und es ist auch und erst recht ein Verbrechen an den Ge-meinden, die Not leiden, die den seelsorgerlichen und spirituellen Mangel erleben und am Verdursten sind. Sie könnten vielleicht gerettet werden.

• In der römisch-katholischen Kirche sind die Hierarchien von Oben nach Unten organisiert. Der Pfarrer schuldet nicht der Gemeinde Rechenschaft, sondern seinem Bischof, dieser wiederum dem Papst. Auf dem Weg von Oben nach Unten werden die Ämter verteilt und die Richtlinien für die Arbeit der Kirche ge-schaffen. In eher alltäglichen Finanz- und Verwaltungsangelegenheiten können Laiengremien Beschlüsse fassen, vor allem dort, wo es mit viel Arbeit verbunden ist. Viel mehr als ein demokratisches Feigenblatt ist das aber nicht.

• In der Ökumene sind die Richtlinien der katholischen Kirche geradezu aberwitzig. Gegenseitige Gastfreund-schaft zu Abendmahl und Kommunion wird verweigert, als sei es nicht Jesus, sondern irgendein Kleriker, der einlädt. In einer Zeit, da die Verwurzelung in der kirchlichen Spiritualität dramatisch abnimmt, ist das ein geradezu suizidales Verhalten, nach dem Motto „Jeder stirbt für sich allein“.

• Im Missbrauchsskandal kam ganz offen zum Vorschein, dass bis in die jüngste Zeit mehr Augenmerk gelegt wurde auf den Schutz und die klerikale Geborgenheit der Täter sowie den Schutz der Organisation. Pater Mertes gilt im klerikalen System immer noch als Nestbeschmutzer. Selbst die jüngsten Personalentschei-dungen von Erzbischof Woelki machen nur den Anschein, als sei ein energisches Durchgreifen erfolgt. Eini-ge wenige Vertuscher werden herausgesucht um sich an den Pranger stellen zu lassen, sie lassen ihre Äm-ter ruhen, mehr aber auch nicht. Es scheint Zweck der Übung zu sein, die öffentliche Aufmerksamkeit von den Untaten der anderen Vertuscher abzulenken.

Es gibt noch vieles, was eigentlich nicht hingenommen werden kann, von der Unfehlbarkeit des Papstes bis zum Reichtum der Kirche. Trotzdem bin ich dabei. In dieser Kirche ist mein Glauben geerdet. In dieser Kirche ist meine kollektive Gottesbeziehung beheimatet. Ich kann nicht ohne weiteres siebzig Jahre meines Lebens weg-schmeißen. Und trotzdem sind die geschilderten Missstände für mich zunehmend unerträglich. Ich fühle mich in einer ausweglosen Sackgasse, weil ich natürlich weiß, dass es nicht möglich ist, die Regeln auf die Schnelle und von unten nach oben zu ändern - und weil ich keinerlei Hoffnung habe, dass sich daran etwas ändert. Für mich selbst kann ich mit meiner Kirche nur dann Frieden haben, wenn der Begriff „Kirche“ sich auf mein Schlupfloch reduziert: Meine Kirche steht nicht in Rom und nicht in Rottenburg, sondern in Jungingen. Hier in unserer Gemeinde nehme ich teil an der Pflege unserer kollektiven Gottesbeziehung. Hier möchte ich lebendi-ge Gottesdienste mitfeiern, bei denen nicht am strengen Schema und Formular festgehalten ist. Ich möchte im Gottesdienst spüren, dass Gemeinschaft gestiftet wird, dass den spirituellen Bedürfnissen der Gemeindean-gehörigen nachgespürt wird, dass wir unsere kollektive Gottesbeziehung gemeinsam pflegen, dass wir auch einander stützen und trösten im gemeinsamen Leiden an unserer Kirche. Ich möchte im Gottesdienst und dar-über hinaus Seelsorge an der Gemeinde erleben, gerade in jetzigen Zeiten, wo ich schon fast in die Zwangslage gerate, meine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche vor mir selbst zu rechtfertigen. Es würde mich wirklich sehr interessieren, wie das andere in unserer Gemeinde erleben.

Die Journalistin Christiane Florin beschreibt so ihre innere Kirche: „Diese ist ehrlich, suchend, leise, heilsam, gerecht und tatsächlich demütig. Die äußere Kirche sah nie so aus, aber es bleibt der Antrieb, sich diese innere Kirche zu erhalten. Zu ihr haben Hierarchien keinen Zutritt, jedenfalls nicht qua Amt. Die äußere Kirche brennt bis unters Dach, aber das Wesentliche verbrennt nicht, jedenfalls solange andere da sind, denen es ähnlich geht. Die innere Kirche gibt innere Unabhängigkeit, sie macht souverän. Widerspruchsgeist ist eine unter-schätzte Macht“ (Zitat aus: „Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben“. S.98 ff. Christiane Florin, Kösel-Verlag München, 2020).

Wolfgang Meyer