Am 16. Oktober 2022

LESUNG: PSALM 121

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Bruder Markus ist Einsiedler. Er lebt in einer kleinen Almhütte hoch oben in den Schweizer Bergen, im Wallis. Vier Monate im Jahr, wenn Schnee liegt, ist seine Einsiedelei nur mit dem Helikopter erreichbar. Was macht er da den ganzen Tag? So wird er gefragt. Er lächelt und sagt: Ich mache nüt. Das ist Schwyzerdütsch und heißt übersetzt: Nichts.

Ich mache nichts. Das stimmt nicht ganz. Er meditiert viele Stunden täglich. Er studiert geistliche Schriften. Die liest er im Internet über seinen Laptop. Per mail kommuniziert er mit der restlichen Welt. Er wird gefragt: Die Leute unten im Tal, was halten die von dir? Rümpfen die nicht die Nase? Der da oben, der sitzt nur da. Er arbeitet nicht. Er tut nichts. Was soll das? Was antwortest du ihnen darauf? Bruder Markus lächelt und sagt: nüt. Er sagt: Dass ich hier sein kann, dass ich diesen Platz gefunden habe, das ist ein Segen. 15 Jahre habe ich nach dem richtigen Ort gesucht. Ich habe auf Teneriffa gelebt. Ich habe die Wüste ausprobiert und den Urwald. Jetzt bin am richtigen Platz. Ein Segen. Das war nicht immer so. In seinem früheren Leben war er Wirtschaftsingenieur in einem großen Schweizer Telekommunikationskonzern in einer leitenden Position. Erfolgreich. Wohlhabend. Irgendwann merkte er: Das passt nicht mehr für mich. Er machte sich auf die Suche. Er wurde Schüler eines hinduistischen Mönchs. Er wurde selbst Mönch in der Tradition der indischen Religion. Was können wir von ihm lernen? Dürfen wir überhaupt etwas von ihm lernen? Er ist doch kein Christ, sondern ein hinduistischer Mönch? Unsere katholische Kirche lehrt im Zweiten Vatikanischen Konzil: Auch in den nichtchristlichen Religionen gibt es Wahres und Heiliges. Was können wir von Bruder Markus lernen? Nüt. Nichts. Nichts tun. Wir leben in einer Welt der Reizüberflutung. Rund um die Uhr prasselt es auf uns ein. Radio. Fernsehen. Internet. Informationen. Nachrichten. Werbung. Mails. Unser Problem ist nicht das Zuwenig, sondern das Zuviel. Da hilft nur eines: Alles abschalten. Nichts tun. Nüt. Die Stille suchen. Rausgehen aus dem Getriebe des Alltags. Helfen kann die Natur. Ein Spaziergang im Wald. Ein Tag in den Bergen abseits der Touristenpfade. Noch etwas können wir von Bruder Markus lernen: Lesen. Aber nicht irgendetwas, sondern etwas Substantielles. Der heilige Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, er war in seinem früheren Leben Soldat, Offizier. Nach einer schweren Verwundung lag er wochenlang im Lazarett. Ihm war langweilig. Er verlangte etwas zu lesen. Früher hatte er gerne Abenteuerromane gelesen. Doch die gab es im Hospital nicht. Man brachte ihm ein Buch mit dem Titel „Das Leben Christi“ und ein anderes „Blüte der Heiligen“. Er las beide. Er wurde nachdenklich. Wie wäre das, wenn ich so leben würde wie der heilige Franziskus oder der heilige Dominikus? Er entdeckte den Unterschied. Wenn er an Weltliches dachte, Abenteuerromane, dann empfand er Vergnügen. Hörte er damit auf, dann erfasste ihn Traurigkeit. Wenn er über das Leben der Heiligen nachdachte, empfand er Freude. Diese Freude verschwand nicht. Sie hielt an. Diese Erfahrung war für ihn grundlegend. Diese geistliche Erfahrung und viele andere schrieb er auf für sich und für andere in einem kleinen Büchlein. Es wurde ein Klassiker der geistlichen Literatur, sein Exerzitienbüchlein. Was können wir tun? Lesen. Etwas Substantielles lesen. Was können wir tun? Nichts. Nüt.

Pfarrer Dr. Bernhard Lackner