am 25. Oktober 2020
Vor Jahren war ich als Pilger in Griechenland auf dem Heiligen Berg Athos. Die autonome Mönchsrepublik Heiliger Berg liegt auf einer Halbinsel im nordägäischen Meer, oft sturmumtost. Seit 1000 Jahren leben dort Mönche in großen Klöstern, in kleinen Siedlungen, in Einsiedeleien, völlig abgeschieden von der restlichen Welt. Auf den Athos zu kommen ist nicht einfach. Orthodoxe Christen dürfen praktisch jederzeit einreisen. Für Pilger, die nicht der orthodoxen Kirche angehören, gelten strengere Regeln.
Nur zehn unorthodoxe Pilger pro Tag sind erlaubt. Sie dürfen maximal vier Tage bleiben. Frauen haben keinen Zutritt. Seltsam? Ich habe in Tübingen studiert. Da gab es einen Frauenbuchladen. An der Tür stand: Zutritt nur für Frauen. Männer müssen draußen bleiben. So ist das. Man bleibt gerne unter sich, im Frauenbuchladen und auf dem Athos. Ich erinnere mich an den ersten Abend auf dem Heiligen Berg. Ich war schon mehrere Stunden unterwegs zu Fuß. Es wurde dunkel. Das Kloster an der Küste, in dem ich übernachten wollte, hatte ich nicht gefunden. Dafür aber ein anderes im Hinterland, etwas abgelegen. Sein Name: Philotheou. Übersetzt: Gottesfreund. Im Speisesaal der Mönche bekam ich das Abendessen. Nach dem Essen räumte ein junger Mönch die Tische ab. Dazu sprach er halblaut und ohne Unterbrechung ein Gebet. Ich verstand: Kyrie Jesu Christe hyie tou theou eleison me. Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Immer und immer wieder sprach er dieses Gebet. Es ist das immerwährende Jesus-Gebet, das Herzensgebet der Ostkirche. Ein kurzer Gebetsruf: Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Oder: Erbarme dich unser. Er wird wieder und wieder gesprochen im Rhythmus des Atems. Das Gebet wird solange geübt, bis es gleichsam in Fleisch und Blut übergeht. Bis es nicht mehr mit den Lippen ausgesprochen werden muss. Bis das Gebet den Mönch tagaus tagein begleitet. Im Geist. Im Rhythmus des Atems. Im Rhythmus des Herzschlags. Eine geistliche Übung. Sie hilft dem Mönch zu erfahren: Jesus, Gott, ist da. Er ist bei mir, immer und überall. Das Jesusgebet ist das meditative Gebet der Kirche im Osten. Mönche und viele Gläubige praktizieren es, vergleichbar dem Rosenkranz bei uns im Westen. Alle Konfessionen und Religionen kennen meditative Übungen. Im Hinduismus und im Buddhismus haben Mönche und Gläubige ein Meditationswort, das sie ständig wiederholen, immer und immer wieder, das Mantra. Muslime wiederholen im Gebet die 99 Namen Allahs. Wie lauten sie? Zwei Namen nenne ich Ihnen. Den ersten und den 99. Sie lauten: Der Erbarmer. Und: Der Geduldige. Beim Aussprechen dieser Namen benützen die Muslime eine Schnur mit 99 Perlen, vergleichbar unserem Rosenkranz. Jetzt im Oktober ist der Rosenkranzmonat. Doch zurück zum Jesusgebet. Wer mehr darüber erfahren will, dem empfehle ich ein Buch „Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers“. Da wird erzählt, wie ein Gläubiger zum Jesusgebet findet. Er hört das Wort des Apostels Paulus: Betet ohne Unterlass! Er fragt sich: Wie geht das? Er macht sich auf den Weg. Er wird Schüler eines geistlichen Lehrers und lernt. Gott ist uns nahe. Gläubige erfahren es. Meditation eröffnet den Weg. Worte. Ein Mantra. Die 99 Namen Allahs. Der Rosenkranz. Das Jesusgebet. Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich unser.
Pfarrer Dr. Bernhard Lackner