Am 22. Mai 2022
GEBET: DER DEKALOG
Es ist Krieg in Europa, in der Ukraine. Wir sehen das Leid der Menschen. Wir sind betroffen, in Sorge, verunsichert. Wie geht es weiter? Was sagt die Kirche? Darf man Kriege führen? Unter bestimmten Umständen ist es erlaubt, militärische Mittel einzusetzen. Wir beginnen beim christlichen Menschenbild. Gott hat jeden Menschen als sein Abbild erschaffen. Deshalb hat jeder Mensch Menschenrechte, die unveräußerlich sind.
Grundlegend ist das Recht auf Leben. Daraus resultiert das Verbot, einen Menschen zu töten. "Du sollst nicht töten." Genauer: "Du sollst nicht morden." So sagt es das 5. Gebot im Dekalog. Ein allgemeines Tötungsverbot findet sich in allen Kulturen und Religionen. Die Tötung eines unschuldigen Menschen ist immer ein schweres Übel, eine Handlung, die in sich schlecht ist. Sie ist nie erlaubt. Die Tötung eines unschuldigen Menschen. Wir kommen wir zu den Ausnahmen vom Tötungsverbot. Die erste Ausnahme ist die Notwehr. Ein Verbrecher überfällt einen unschuldigen Menschen. Er hat die Absicht, ihn zu töten. Der Angegriffene hat das Recht, sich zu verteidigen. Er darf den Angreifer töten, wenn das eigene Leben anders nicht geschützt werden kann. Es ist eine Güterabwägung. Zwei Güter liegen gleichsam auf der Waage. Das eigene Leben und das Leben des Angreifers. Der Akt der Notwehr ist eine Handlung mit Doppelwirkung. Die erste Wirkung der Notwehr, die Rettung des eigenen Lebens, ist angestrebt. Die zweite Wirkung, die Tötung des Angreifers, wird notgedrungen in Kauf genommen. Deshalb ist die Notwehr sittlich erlaubt. Und was ist mit der Bergpredigt? Jesus sagt: "Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern, wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin." Wie geht das zusammen? Jesus will nicht das Recht auf Notwehr aufheben. Er will einladen: Christen können auf ihr Recht freiwillig verzichten, in bestimmten Situationen, wenn Aussicht besteht, dass der Angreifer von der Gewalt ablässt, oder, wenn sie die Kraft haben, die ungerechte Gewalt zu erdulden. Die zweite Ausnahme ist die Nothilfe. Ein Verbrecher überfällt einen unschuldigen Menschen. Ein Polizist beobachtet das Geschehen. Er hat die Pflicht, einzugreifen. Im äußersten Fall hat er das Recht, den Angreifer zu töten, um das Leben des Angegriffenen zu retten. Notwehr und Nothilfe, diese Prinzipien gelten auch im Krieg. Wenn ein Volk von einem anderen militärisch angegriffen wird, hat es das Recht, sich zu verteidigen, auch mit Gewalt. Ein Staat hat das Recht und die Pflicht, einem Verbündeten, der angegriffen wird, zu Hilfe zu kommen. Militärische Verteidigung ist aber nur unter vier Bedingungen erlaubt:
- Der Schaden, den der Angreifer verursacht, steht sicher fest, ist schwerwiegend und von Dauer.
- Alle anderen Mittel der Verteidigung erweisen sich als wirkungslos.
- Es besteht Aussicht auf Erfolg der Aktion.
- Der Waffengebrauch darf nicht zu Schäden führen, die größer sind als das Übel, das bekämpft werden soll.
Wer angegriffen wird, hat das Recht, sich zu verteidigen. Wer sieht, dass ein Verbündeter angegriffen wird, hat die Pflicht, ihm beizustehen.
Pfarrer Dr. Bernhard Lackner