Am 16. Juni 2024
„Dein Reich komme“! So beten wir, Brüder und Schwestern, im Vaterunser. Seit fast 2000 Jahren. Und nichts passiert, oder? Wo bleibt es denn, dieses Reich Gottes? „Das Reich Gottes ist mitten unter euch“ sagt Jesus im Lukas-Evangelium. Und zugleich lehrt er uns beten: „Vater unser – Dein Reich komme“. Das Reich Gottes ist schon da – das Reich Gottes möge kommen – ein Widerspruch?
Auch die Jünger Jesu waren verwirrt. Auf der einen Seite sahen sie die Wunder, die Jesus tat. Sie sahen das Heil, das er zu den Menschen brachte. Das Reich Gottes – Gottes barmherzige Liebe – war sichtbar mitten unter ihnen. Sie sahen aber auch die Anfeindungen gegen Jesus. Sie sahen: Viele Menschen wendeten sich von Jesus ab. Wie konnte das sein? Die Botschaft Jesu musste doch jeden überzeugen! Wieso verbreitete sich das Reich Gottes nicht auf einen Schlag? Geht es uns heute nicht ähnlich wie den Jüngern? Wir hören die Botschaft Jesu von einem Leben in Fülle für alle Menschen. Wir sehen das Gute, das in seinem Namen geleistet wird. Das muss doch jeden ergreifen! Und trotzdem werden unsere Kirchen leerer. Wir sehen Menschen, die nur an sich denken. Wir sehen Menschen die leiden – in der ganzen Welt. In dieser Situation spricht Jesus den Jüngern und uns Mut zu – in zwei Gleichnissen. Im ersten Gleichnis vergleicht er das Reich Gottes mit dem langsamen Wachsen des Getreides: Ein Sämann sät Getreide aus. Es wächst von ganz allein – wie, das weiß der Sämann auch nicht. Aber unaufhörlich reift es heran – am Ende wird geerntet. Was lehrt uns dieses Gleichnis? Das Saatgut – es ist Gottes Wort. Im Gleichnis ist Jesus der Sämann. Er ist das fleischgewordene Wort. Heute säen wir es aus. Durch unser Zeugnis in Tat und Wort. Was aus diesem Zeugnis wird, was daraus wächst – das dürfen wir Gott anvertrauen. Wir können das Wachstum nicht beschleunigen. Wir können nicht machen, dass Menschen glauben. Wir können nicht machen, dass Menschen ihren Nächsten lieben. Wir brauchen Geduld. Erst am Ende der Zeiten, am Tag des Jüngsten Gerichts – dann sehen wir das Reich Gottes in Vollendung. Dann kehrt Jesus Christus zurück – zur Erntezeit. Was genau sollen wir säen? Wie erklären wir Jesu Botschaft den Menschen heute? Weihbischof Kreidler sagte einmal in einer Predigt: „Vielleicht sind wir viel zu sehr damit beschäftigt, wie wir Gottes Wort und den Glauben in die Sprache des modernen Menschen übersetzen können, während wir uns auf die einzige Sprache, die alle Menschen sprechen, auf die Sprache der Liebe, zu wenig verstehen.“ Ich weiß nicht, ob wir sie tatsächlich zu wenig verstehen – die Sprache der Liebe. Oder ob wir sie manchmal aus dem Blick verloren haben, wenn wir überlegen, wie wir als Kirche attraktiver werden können. Aber ich stimme Weihbischof Kreidler zu: Die Sprache der Liebe ist der Schlüssel. Das fängt schon ganz klein an in der Frage, wie wir Christen miteinander und mit unseren Mitmenschen umgehen. Sagt ein Außenstehender: „Seht wie sie einander lieben“, wenn er uns sieht? Oder eher: „Die glauben ja selbst nicht was sie sagen!“ Schauen wir auf das zweite Gleichnis: Jesus vergleicht das Reich Gottes mit dem Senfkorn. Aus dem kleinen Senfkorn wird ein großes Gewächs. Die Vögel des Himmels können in seinem Schatten nisten. Was lehrt uns dieses Gleichnis? Wir könnten auf die Anzahl der Menschen schauen, die Jesus folgten und folgen: Damals – vor 2000 Jahren – waren es nur wenige Jüngerinnen und Jünger. Ein kleines Senfkorn. Heute bekennen sich mehr als zwei Milliarden Menschen zu Jesus Christus. Aus dem kleinen Senfkorn ist etwas sehr Großes geworden. Aber dann sehen wir Terroristen wie Putin, die einen „heiligen Krieg“ führen – so nennt der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Terroristen wie Putin, die sich öffentlich bekreuzigen – und Christus für ihre Zwecke missbrauchen. Wir sehen die Missbrauchskandale in die Nachfolger Christi verwickelt sind. Das alles hat mit meiner Vorstellung vom Reich Gottes nichts zu tun. Das Reich Gottes ist nicht in Zahlen zu messen. Das Erreichen großer Zahlen ist nicht die Botschaft des Gleichnisses. Für mich bedeutet das Gleichnis: Wir sollten unsere kleinen Zeugnisse für Jesus Christus nicht unterschätzen. Sie sind das Senfkorn. Eine kleine Tat der Nächstenliebe, ein freundliches Wort. Sie können etwas ins Herz der Menschen pflanzen – etwas, das vielleicht weiter gegeben wird, etwas, das weiter wächst. Dann sind wir Teil der Senfstaude, die den Vögeln des Himmels Schutz und Geborgenheit bietet. Dort wo das geschieht, ist das Reich Gottes mitten unter uns, ist es bereits jetzt erfahrbar. Wir haben heute die Lesung aus dem Buch Ezechiel gehört: „Auf dem hohen Berg Israels pflanze ich ihn. Dort treibt er dann Zweige, er trägt Früchte, wird zur prächtigen Zeder. Alle Vögel wohnen darin; alles was Flügel hat wohnt im Schatten ihrer Zweige.“ Wie schön wäre es, wenn Menschen dieses Bild vor Augen hätten, wenn sie an uns Christen denken! Ein prächtiger Baum, der allen Vögeln Schutz und Geborgenheit bietet – großen Vögeln, kleinen Vögeln, bunten Vögeln, schrägen Vögeln… Aber das Gleichnis vom Senfkorn fordert nicht nur etwas von uns – es verheißt uns auch etwas. Auch wir sind Vögel des Himmels. Auch wir suchen Schutz und Geborgenheit. Wir erfahren sie dort, wo wir uns von anderen Menschen, von unserem Glauben getragen fühlen können. Und ich denke es gehört beides zusammen: Wir sind die Zweige, die andere tragen, die anderen wohltuenden Schatten spenden. Die Kraft dafür schöpfen wir daraus, dass wir selbst getragen sind. Ein Beispiel: Im ersten Lockdown der Corona-Pandemie hatte ich Dienst am Seelsorgetelefon in meiner Ausbildungsgemeinde St. Georg. Bei diesem Dienst wusste man nicht genau: Meldet sich überhaupt wer? Und wenn: Geht es um eine Auskunft zu Gottesdiensten – oder benötigt jemand Hilfe? Bei einem der Dienste stand ich gerade am Herd und kochte für meine Familie. Da klingelte das Telefon. Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme: „Seniorenheim. Wir haben hier eine Bewohnerin, die liegt im Sterben. Aber sie kann irgendwie nicht loslassen – sie ist total unruhig. Wir wissen, dass sie früher immer in der Kirche war. Vielleicht benötigt sie geistlichen Beistand. Können Sie vorbeikommen?“ Ich habe der Anruferin kurz erklärt, dass das nicht geht. Und dass ich kein Priester bin und keine Sakramente für Sterbende spenden darf. Aber dass ich der Bewohnerin gerne telefonisch beistehe und einen Sterbesegen für sie spreche. Ich fragte nach dem Namen der Sterbenden. Nennen wir sie „Gerda“. Die Anruferin hielt Gerda den Telefonhörer ans Ohr. Gerda konnte nicht mehr sprechen. Ich konnte nur ihren unruhigen Atem hören. Ich habe einen Sterbesegen gesprochen, Psalmen und Gebete. Wenn sie mit einer Sterbenden das Vaterunser sprechen – „Dein Reich komme“ – oder das Ave Maria – „bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes“ – dann berührt einen selbst das sehr tief. Es wird einem klar: Für Deine Mitschwester ist das jetzt, in diesem Moment. Ich versuchte Gerda zu tragen – ihr Geborgenheit zu geben – in ihrer schwersten Stunde. Ihr die Gewissheit zu geben: Das Reich Gottes steht für Dich offen! Ich hörte, wie ihr Atem zunehmend ruhiger wurde. Und gleichzeitig fühlte ich selbst mich in diesem Moment getragen – von meinem Glauben. Ohne dieses Gefühl, selbst getragen zu sein – das hätte nicht funktioniert. In den Stunden nach dem Telefonat hat Gerda den Weg heim zu Vater gefunden. Ich las ihre Todesanzeige ein paar Tage später in der Zeitung. Worum beten wir also, wenn wir sprechen: „Dein Reich komme!“? Wir beten darum, dass Gott die barmherzige Liebe unter den Menschen wachsen lassen möge. Wir können das nicht ohne seine Hilfe. Wir beten darum, dass wir seine barmherzige Liebe in unserem Leben erfahren dürfen – dass wir uns von ihm getragen fühlen können und Ruhe und Geborgenheit finden. Und wir beten darum, dass wir selbst andere tragen können. Dass wir diese barmherzige Liebe an andere verschenken können – und dass Gott uns die Kraft dazu gibt. Vater unser – Dein Reich komme!
Diakon Markus Lubert